Latinumsklausur II


Von der Verantwortung eines Staatenlenkers für die Versorgung seines Vokes. (Es spricht ein neu eingesetzter Herrscher).

Es gibt niemanden, der nicht wüßte, daß die Staatenlenker keine Götter sind. Aber die Staatenlenker müssen so regieren, daß ihnen die größte Klugkeit und alle Sorgfalt bei der Sorge für die Getreideversorgung eigen ist. Daher ist es mein Rat, daß zu jeder Zeit Getreide und die übrigen zum Leben notwendigen Dinge zusammengetragen und sorgfältig verwahrt und bewahrt werden. Denn nicht aus Überfluß an Getreider ist bisher irgendein Staat geschmälert und in Gefahr gebracht worden, aber durch Mangel an Geteide und Schwierigkeit mit dem Proviant waren viele Staaten in großer Gefahr, einige sind [daran] zu Grunde gegangen.
Aber mag es einen Staatenlenker geben, der sagt: "Alle wissen, daß ich kein Gott bin, der das Wetter nachs einem Willen bestimmt. Und auch wenn zufällig etwas schlechtes geschieht, was wird mir zustoßen? Ich zumindest werde nicht am Hunger sterben, dies weiß ich sicher."
Diesem antworte ich: Auch ich sage nicht, daß ein Staatenlenker an Hunger, Durst, Kälte oder Hitze zu Grunde gehen muß, aber ich behaupte, daß für ihn dieses und auch Schlimmeres dabei herauskommen kann, weil es sicher nichts gibt, was von einem Staatenlenker so sehr gefürchtet werden muß wie der Hunger des Volkes. Denn bei einem durch Hunger erschöpften Volk gelten Rat, Liebe, Pflichtbewußtsein, Bitten, Treue, Drohungen und auch nicht irgendeine anderes Pflicht etwas.
Als Beweis dieser Sache bringe ich an, daß hochberühmte Männer, die großes Ansehen beim Volk hatten, ihre Stellung verloren, weil sie wegen des Mangels an Getreide die Liebe des Volkes verloren hatten.